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Erschienen in der Wochenzeitung "Die Zeit", 22.4.2004

Pille auf Tour

Bis aus einem Wirkstoffpulver das fertige Medikament wird, reist es mitunter rund um den Erdball. Dass es am Schluss in der richtigen Schachtel landet, ist eine logistische Meisterleistung

Von Sebastian Christ

Diese Reise: Sie war lang, sie war weit, sie ist vorbei. Tausende Kilometer hat das Wirkstoffpulver zurückgelegt, um zur Tablette zu werden. Zweimal den Atlantik überquert, drei Fabriken passiert. Es wurde zermahlen, vermischt, verwirbelt. Dann getrocknet, zusammengedrückt und beschichtet. Und nun verlässt die fertige Arznei das endlose Schacht- und Kübelsystem der Plankstädter Medikamentenfabrik. Im Trommeltakt prasseln die Tabletten aus einem Vorratstrichter aufs Laufband, von dem sie in die Näpfchen eines dünnen, endlos langen Plastikstreifens tropfen. Sekunden später verschwinden sie luftdicht verschweißt unter Alufolie und rotieren um eine große Trommel. Mit einem blechern hackenden Knallen stanzt die Maschine schließlich einzelne Portionen des Medikaments Casodex aus, die dann zur Packmaschine weitersausen.

 

Ein Mann hat die Maschinenstraßen immer im Auge: Anton Woderer, 57. Er ist Leiter dieser Abteilung, die offiziell "Konfektionierung" heißt. Sein Job ist es, die Arbeit zu koordinieren und zu überwachen. Woderer kennt jeden Arbeitsschritt, er weiß, warum Greifarme greifen, Trommeln rotieren, Stanzen knallen.

 

Während seines Pharmaziestudiums in den sechziger Jahren absolvierte Woderer Praktika in Pharmabetrieben und hielt später auch mal Vorlesungen an der Uni. Die Lust am Management kam ihm schon damals: "Wenn man jedes Semester neue Studenten hat, dann gewinnt man automatisch ein Gespür für Personalführung."

 

Seit 23 Jahren ist Woderer in Plankstadt angestellt. Ein Szenario ängstigt ihn noch immer: dass Arzneien in die falschen Packungen kommen. Die Folgen wären verheerend, man müsste sämtliche Schachteln zurückrufen. Und er wäre für alle Folgen verantwortlich, die durch die Einnahme der vertauschten Medikamente entstünden. Doch der Konjunktiv zeigt: Es ist ihm noch nicht passiert.

 

Plankstadt ist einer von zwei Produktionsstandorten des Pharmakonzerns AstraZeneca in Deutschland. Casodex, ein Mittel bei Prostatakrebs, wird hier seit zehn Jahren produziert. Der lange Weg von der Idee bis zur Arznei beginnt jedoch in Großbritannien. Dort, in Alderley Park, steht das Entwicklungszentrum für Onkologiepräparate von AstraZeneca. Forscher arbeiten hier ständig an neuen Wirkstoffen. Und auch der noch unreine Wirkstoff von Casodex, Bicalutamid, wird dort hergestellt. Um ihn für den eigentlichen Produktionsprozess in Deutschland vorzubereiten, muss er von Fremdsubstanzen getrennt werden. Deshalb wird er von Großbritannien in großen, schwarzen Blechtonnen nach Puerto Rico geflogen; dort befindet sich die Wirkstoffreinigungsanlage für Casodex.

 

Ab in die Karibik, der Steuer wegen

 

Die Anlage erstreckt sich über vier Stockwerke und ist fast 20 Meter hoch. Vor allem steuerliche Gründe sind dafür ausschlaggebend, dass die Wirkstoffe in der Karibik gereinigt werden. Im langen, blechernen Giraffenhals des Maschinenungetüms wird der Wirkstoff zentrifugiert, getrocknet und zu feinem Pulver zermahlen, das in Papptonnen rieselt. Mit dem Flieger geht es zurück nach Europa. In Plankstadt bei Heidelberg wird Casodex fertig produziert und abgepackt. Von Mitarbeitern wie Christina Simons, 43.

 

Sie leitet eine Abteilung, die eng mit der Produktion verbunden ist: Planung und Logistik. Ohne Plan keine Produktion und ohne Produktion kein Plan. "Mein Job ist eine Schnittstelle für die betriebliche Kommunikation, extern wie intern", sagt sie. Simons meldet den Produktionsbedarf an die Fabrik. Und sie ist dafür zuständig, die Kapazität des Werks an die Verwaltung zurückzumelden. Außerdem repräsentiert sie AstraZeneca bei den Abnehmern von Casodex, besucht weltweit Betriebe, um über Kaufmengen zu reden. "Der Beruf ist interessant, weil er abwechslungsreich ist. Man hat nie Routine, muss sich immer wieder auf neue Situationen einstellen", sagt sie. Christina Simons ist seit 22 Jahren in Plankstadt. Angefangen hat sie als Industriekauffrau. "Ich bin damit aber eher eine Ausnahme", sagt sie, "die meisten meiner Mitarbeiter sind studierte Betriebswirte."

 

Die Produktion beginnt: In Metallbehältern wird der Wirkstoff mit Hilfssubstanzen vermischt und mit Flüssigkeit zu Granulat verarbeitet. Dann wird der Mix dem Wirbelschichttrockner zugeführt. Durch ein kleines Kontrollfenster sieht man das Pulver in flinken, kurzen Wellen in Richtung Tablettenpresse vorbeitanzen.

 

In Plankstadt wird für 34 Länder produziert

 

All diese Räume liegen im "Weißen Bereich" der Produktionsabteilung. Wer hier rein will, kann sich die Farbe seiner Arbeitskleidung nicht aussuchen: weiße Schutzhaube, weißer Mundschutz, weiße Baumwollkleidung, weiße Kunststoffschuhe. Hier arbeitet Tanja Hartmüller, 35, als Produktingenieurin. Die gebürtige Schwäbin hat an der Fachhochschule Albstadt-Sigmaringen Pharmatechnik studiert; ein Studiengang, der Elemente aus Verfahrenstechnik, Pharmazie und Maschinenbau vereint. Hartmüller ist nicht die einzige Pharmatechnikerin bei AstraZeneca. Ihre Kommilitonen arbeiten in fast allen Abteilungen und sind auch bei anderen Pharmabetrieben gefragt.

 

Bis vor kurzem war Tanja Hartmüller Projektingenieurin. Als die Anlagen im Weißen Bereich der Produktion modernisiert wurden, plante sie das neue Gebäude mit und suchte die Maschinen aus. Sie war von der Angebotsprüfung über die Anschaffung bis hin zur endgültigen Abnahme der Anlagen dabei.

 

Jetzt absolviert sie eine Zusatzausbildung im Bereich Arbeits- und Umweltschutz. "Man blickt von außen auf die jeweiligen Abteilungen und entdeckt so Dinge, die Menschen nicht auffallen, die dort schon jahrelang arbeiten", sagt sie. Ihre Aufgabe wird sein, Gefahrenquellen ausfindig zu machen und zu entschärfen.

 

Einige Türen weiter, in einem speziell gesicherten Raum, haben die Tabletten den letzten Produktionsschritt erreicht. Nach dem Pressen werden sie beschichtet, in große Aluminiumkübel gefüllt und zur Konfektionierung gebracht. Dort knallt die Stanze immer noch, metallisch und hart, lässt Sekunde für Sekunde neue, fertige Tablettenstreifen fallen. Die Tabletten flitzen am Fließband entlang. Immer weiter. Ihr Weg ist noch längst nicht zu Ende. Greifarme saugen mit Vakuum immer neue Beipackzettel an und ordnen sie den Tabletten zu. Italienische Worte, kyrillische Buchstaben, japanische Schriftzeichen rotieren in Gleichtakt. Im besten Fall verpackt jede der neun Maschinen eine andere Sprache. Jeder Zettel ist wie ein Adressschein. Für 34 Länder produziert Plankstadt. Laster und Flugzeuge bringen die Arzneien in alle Welt. Die nächste Reise: Sie wird lang, sie wird weit. Und sie geht schon bald los.