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Erschienen auf streitbar.org zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstands

Pan Stanislaw lebt

von Sebastian Christ

Hier will er begraben werden, nirgendwo sonst. Unter rauschenden Buchen und Weiden, deren Äste sich im Wind biegen und dabei die trockenen Blätter wie Krepppapier flattern lassen. Im sandigen, braunen Boden Warschaus, der so weich sein kann wenn er trocken ist und so rau, wenn er nass wird. Zwischen grauen Granitgrabsteinen, die nur Namen kennen, keine Militärränge oder Orden. Im Tod sind hier alle gleich, Generale, Oberste, Hauptmänner, Feldwebel und Gefreite. Sie sind „Menschen". Genau dieses Wort benutzt Stanislaw Sieradzki immer wieder. Es ist das größte Lob, das er aussprechen kann. Er senkt seine Stimme und atmet das Wort mit warmer Wonne nach außen: „Menschen". Alle, die hier in dieser Grabreihe liegen, haben mit ihm zusammen im Warschauer Aufstand gekämpft. Sie waren Soldaten der Polnischen Heimatarmee, manche von ihnen so jung, dass sie kaum eine Waffe halten konnten. Neben ihnen begraben zu werden, auf dem Ehrenfriedhof Powazki, das ist sein letzter Wunsch.

„Ich bin Pan Stanislaw", sagt er mit freundlicher Stimme. Bei ihm klingt das nicht distanziert, sondern fast ein wenig vertraut. Er übersetzt seinen Namen ständig ins Deutsche: „Herr Stanislaus". Aus seinen Augen leuchtet Leben. Sie flackern, funkeln, fixieren. Sie haben den Tod gesehen und können trotzdem noch lachen, strahlen grün hinter dicken Brillengläsern. Wenn er im Stadtbus zum Friedhof fährt, bietet er mit seinen 83 Jahren immer noch jungen Frauen seinen Sitzplatz an. Er steht dann auf und stützt sich mit beiden Händen vom Sitz ab. Dabei grinst er schelmisch.

Pan Stanislaw ist oft auf Powazki. Hinter den Parzellen führt eine vierspurige Hauptstraße entlang. Nur eine Hecke trennt die Gräber vom Verkehrslärm. Aufheulenden Motorradmaschinen schneiden durch die Ruhe über den Gräbern. Pan Stanislaw stört das alles nicht. Er nennt sein Grab „neues Zuhause", spricht davon, dass er bald „umzieht". An Feiertagen geht er hier hin, zum Jahrestag des Aufstands. Oder immer dann, wenn einer seiner Kameraden beerdigt wird. Mit ihnen kämpfte er im Bataillon „Zoska", ein Truppenverband von 685 aktiven und ehemaligen Pfadfindern, die sich freiwillig dem Widerstand angeschlossen hatten. Oberleutnant Stanislaw Sieradzki war mit 23 Jahren einer der Ältesten, als der Aufstand los ging. Fast zwei Drittel von ihnen starben in den Kämpfen oder wurden von SS-Angehörigen hingerichtet. Die meisten Zoska-Soldaten sind auf Powazki begraben. „Für mich ist dieser Friedhof eine heilige Stelle in Warschau. Und so lange ich leben werde, komme ich immer wieder hier her", sagt er voller Inbrunst.

Powazki ist ein sehr polnischer Ort. Hier liegen die Helden aus sämtlichen Kriegen der letzten 150 Jahre begraben. Meist starben sie in ungleichen Kämpfen. Vielleicht hat man auch deswegen hier und anderswo so wenig Bedenken, sie „Helden" nennen zu dürfen. Im Aufstand von 1863 etwa, gegen die Preußen und Russen. Im Ersten Weltkrieg, noch mal gegen Preußen und Russen. Und im Zweiten Weltkrieg, im Kampf mit Nazi-Deutschland. Wenn man so will, dann ist Pan Stanislaw auch ein Held. Seine große, polnischer Schlacht begann an einem Sommertag.

Am 1. August 1944 unternahmen etwa 25 000 Warschauer einen letzten Versuch, ihre Stadt noch vor den Russen von den Nazis zu befreien. Sie scheiterten. In 63 Tagen töteten deutsche Soldaten etwa 200 000 Menschen, 90 Prozent davon Zivilisten, die meisten in gezielten „Säuberungsaktionen". Doch selbst als die Lage schon aussichtslos war, kämpften die Männer und Frauen in der Polnischen Heimatarmee noch weiter, getrieben von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Das ist der Mythos. So erzählen heute noch die Großväter ihren Enkeln von jenen Tagen im Spätsommer 1944. Die Rote Armee wartete marschbereit am anderen Ufer der Weichsel und sah zu, wie die SS eines der größten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs begann. Was Himmlers Truppen am linken Flussufer taten, war ganz im Sinne Stalins, standen die meisten Aufständischen doch dem kommunistischen System eher kritisch gegenüber. Am 2. Oktober 1944 war alles vorbei. Warschau wurde geräumt und Haus für Haus gesprengt. Von Polens Hauptstadt blieb nichts als eine menschenleere Trümmerwüste.

Pan Stanislaw hat heute sein schwarzes Barett aufgezogen. So eines haben Soldaten wie er damals auch getragen. Dazu ein dunkelblaues Jackett, das er immer zu solchen Gelegenheiten anzieht. Die Orden seinem Revers sind mit der Zeit matt geworden. Der Stoff auf der Ordensspange ist abgewetzt. Darunter klimpern die höchsten polnischen Militärmedaillen und das Ehrenabzeichen der Stadt Warschau. Pan Stanislaw geht ein wenig gebeugt, mit langsamen, großen Schritten. Er ist 1,90 Meter groß, immer noch ein stattlicher Mann. Fast anderthalb Stunden lang geht er zwischen den Grabreihen entlang, ohne zu sitzen. Oft bleibt er unvermittelt stehen und erzählt Geschichten, die ihm zu den Grabsteinen einfallen. Und er erzählt pausenlos. Der ganze Friedhof liegt vor ihm wie ein offenes Buch. Und nur er kann es lesen.

An einem unscheinbaren Urnengrab schlägt seine Erzähllaune in Begeisterung um. „Dies ist der Arzt, der mir einst das Leben gerettet hat", sagt er mit getragener Stimme, fast, als ob er eine Rede halten wollte. Im September, der Aufstand dauerte schon mehr als einen Monat, streckte ihn eine Blutvergiftung nieder. Es sah schlecht um ihn aus. Doch dann kam dieser Mann, ein Mediziner, der zwischen Trümmern in einem Behelfskrankenhaus arbeiten musste. Und er vollbrachte ein Wunder, Pan Stanislaw war plötzlich geheilt. Wie, das weiß er bis heute selbst nicht so genau. Der Arzt ist mittlerweile tot. Vor drei Jahren gestorben, und dann auf Powazki beigesetzt.

Einige Meter weiter liegt ein 18-jähriges Mädchen begraben. Sie war Soldatin, wie er. Doch sie überlebte den Aufstand nicht. Ihre Leiche lag auf einem Acker, irgendwo im Bereich der heutigen Innenstadt. Pan Stanislaw wollte sich auf allen Vieren durch den Dreck zu einer Deckung vor arbeiten, als er auf einmal etwas Hartes, Kaltes unter seinem Körper spürte. Es war ihr Helm. Er denkt noch oft an sie, an diesen Tag. Wie er weinte als er sie fand, wie er zu ihrer Mutter ging, und noch mal weinte. Es sind die traumatischen Erlebnisse eines Soldaten, so wie Soldaten sie millionenfach im Krieg erlebten. In Deutschland wollten oder konnten viele nach dem Krieg nicht darüber reden. In Polen war es verboten.

Als die kommunistische Regierung von den Sowjets eingesetzt wurde, durfte Pan Stanislaw kein Held mehr sein. Der Aufstand richtete sich schließlich, zumindest indirekt, auch gegen die vorrückende Rote Armee. Obwohl die Angehörigen der Polnischen Heimatarmee in der Bevölkerung hohes Ansehen genossen, begann die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei 1948 damit, die Offiziere der Truppe aburteilen zu lassen. Die Kommunisten behaupteten, dass die Soldaten der Heimatarmee ihr Leben für eine falsche Sache riskiert hätten. Schließlich seien die Sowjets Befreier gewesen, und keine Besatzer. Es kam zu Prozessen, sieben Männer wurden zum Tode verurteilt, vier weitere Soldaten starben an den Folgen von Folter und Hunger in den Gefängnissen. Auch Pan Stanislaw wurde festgenommen. Sein Los: acht Jahre Haft. „Es wären die besten Jahre meines Lebens gewesen", sagt er heute bitter. „Ich hätte studieren können, nach dem Krieg, oder arbeiten. Doch ich musste in meiner Zelle sitzen." Wer als Ex-Soldat der Heimatarmee damals nicht verhaftet wurde, musste zumindest damit rechnen, bei Beförderungen im Zivilleben ausgespart zu werden oder keinen Studienplatz zu bekommen.

Mit Stalins Tod 1953 und der Machtübernahme durch Chruschtschow drei Jahre später war das Schlimmste vorbei. Es dauerte noch weitere 33 Jahre, bis es in Warschau auch eine zentrale Gedenkstätte für den Aufstand gab. Sie wurde noch von den Kommunisten geplant. Und das sieht man. Vor einem spiegelnden Glasgebäude erheben sich türkisblaue Kunststoffsäulen in die Höhe. In deren Mitte befindet sich ein Platz, auf dem eine Betonplastik steht. Aus ihr stürzen übergroße Bronzemenschen mit hageren, kantigen Arbeitergesichtern und entschlossenem Blick hinaus, manche von ihnen haben Waffen in der Hand, andere nur Steine. Die Warschauer lieben diesen Ort nicht. Aber sie haben ihn akzeptieren gelernt. Hier gedenken sie der Kämpfe von damals, legen Margeriten, Orchideen und Tulpen nieder. Oft stecken die Blumen unter den Abzugshebeln der bronzenen Gewehre. Diese Stellen sind glatt gerieben und glänzen in bräunlichem Gold.

Pan Stanislaw rechnet vor. Als der Aufstand los ging, waren sie noch alle zusammen, 685 Männer und Frauen im Bataillon Zoska. In den neunwöchigen Kämpfen fielen 453 von ihnen. Nach dem Krieg starben weitere 163 Mitglieder eines natürlichen Todes. Bleiben noch 69. „Unsere Familie wird langsam kleiner", sagt er. Es klingt wehmütig, mit viel Blei in der Stimme. Pan Stanislaw steht vor dem Denkmal für sein Bataillon. Es ist der einzige Ort auf der ganzen Welt, wo alle 685 Soldaten noch mal zusammen kommen. Ihre Lebensdaten stehen, weiß auf grau, in Stein gemeißelt. Sein eigener Eintrag ist noch nicht komplett. „Stanislaw Sieradzki. 1921-", steht da. Seine Stimme stockt. Schweigend blickt er auf die 616 anderen, hinter deren Namen schon eine zweite Jahreszahl steht.

Mit den Deutschen hat Pan Stanislaw seinen Frieden gemacht. "Es waren schlechte und traurige Zeiten. Und natürlich habe ich gleich nach dem Krieg anders gedacht", sagt er. "Aber jetzt, wo ich auch mal nach Deutschland gekommen bin, wo ich dort Freunde gefunden habe, jetzt weiß ich, dass es nur Menschen waren, die auf der anderen Seite gekämpft haben." Nur Menschen. Genauso wie Minister Stanislaw Radkiewicz, der nach dem Krieg die Offiziere der Heimatarmee verhaften ließ. Der ihm die besten Jahre seines Lebens kostete, der ihn demütigte, der ihn und seine Kameraden als Narren abstempelte. "Ich stehe oft an seinem Grab und denke: Hier liegt ein alter Mann. Mehr nicht."

Stanislaw Sieradzki ist 83 Jahre alt. Und er hat keine Feinde mehr.