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Erschienen zum Oktoberfest 2003 in der Frankfurter Rundschau

 

Rushhour nach der Wiesn

Von Sebastian Christ

Ein Abstieg. Einmal um die Ecke, durch das Tor hindurch und dann die Rolltreppe runter. Mit jedem Schritt auf den stählernen Stufen schwingt die Festmusik ein wenig leiser durch die Luft. An ihre Stelle tritt ein Geruch, der höchstens noch an die Folgen des Feierns erinnert. Hier unten, im U-Bahnhof Theresienwiese, da hört man das Oktoberfest nicht mehr. Man riecht es nur noch.

Auf dem Bahnsteig wartet eine taumelnde Menschenmasse auf den nächsten Zug. Im Chor atmen hunderte Kehlen den Dunst der Oktoberfestbiere in Richtung Bahngleis. Manche schaffen es gar nicht mehr soweit, bleiben in den Ecken liegen, müssen sich übergeben. Längs auf den Wartebänken liegen hier und da Wiesngänger, die friedlich glucksend ihren Rausch ausschlafen. Der Fahrtwind des ankommenden Zuges verwirbelt die Gerüche.

"Meine Kollegen arbeiten gern hier", sagt Wolfgang Liedtgens. Er ist nüchtern. Er muss es sein, schließlich liegt noch ein langer Abend vor ihm. Der Rheinländer arbeitet für die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). Sein Arbeitsplatz ist ein gläserner Kasten, der auf einem schwarz-orangen Kunststoffsockel steht. Wie eine Insel steht dieser auf der Mitte des Bahnsteigs. Von hier aus beobachten Liedtgens und seine Kollegen die einfahrenden Züge, passen auf, dass keine Unfälle passieren. Vor den Scheiben stolpern Festbesucher immer wieder knapp an den Gleisen vorbei. Ab und zu gibt es kleine Schlägereien. Liedtgens bleibt ruhig. Über sein Gesicht huscht höchstens ein Lächeln. Er kennt das hier alles, weiß was zu tun ist. Das Schlimmste wäre, in solchen Situationen vorschnell zu handeln. Die Menge braucht Ruhe, eine leitende Hand. Wenn einer hier die Kontrolle behalten muss, dann Liedtgens. Allein schon, um diejenigen zu schützen, die längst jede Kontrolle verloren haben.

Oben, über der mehrere Meter mächtigen Betondecke, da steigt das größte Volksfest der Welt. Etwa drei Millionen Besucher zählten die Wirte in der ersten Woche. Nach Schätzungen der Verkehrsgesellschaft nutzen 90 Prozent von ihnen öffentliche Verkehrsmittel. Kämen sie über den Tag verteilt, hätten die Mitarbeiter wohl weniger Probleme. Doch auch auf der Wiesn gibt es eine Rushhour. Gegen 23 Uhr, mit dem Ende des Bierausschanks in vielen Zelten, wälzen sich schwer überschaubare Menschenströme in den U-Bahnschacht.

Vor einigen Jahren wurde deswegen am Haupteingang ein Schleusentor installiert. Per Knopfdruck lässt sich so der Menschen-Lindwurm trennen. Quetschen sich zu viele Leute in den Schacht, leuchtet in Liedtgens' Glaskasten eine Lampe auf. Nach Absprache mit den Sicherheitsleuten kann er dann eine stählerne Wand herunterfahren, die den Bahnhof abriegelt. "Wir hatten einige Treppenstürze. Das kann ganz gefährlich sein, besonders bei dem Alkoholpegel, den viele haben", sagt Liedtgens. "Heute ist Samstag, es ist verdammt viel los. Wir mussten schon vier Mal das Tor schließen."

Die Leitzentrale zur selben Zeit. Dieser Platz ist Welten von der Theresienwiese entfernt. Oder: fünf Kilometer. Unter dem Marienplatz, wo der Fahrbetrieb der Linien U3 und U6 koordiniert wird, gibt es keine Betrunkenen. Es riecht nach Kaffee. An der Wand hängen Karten, auf denen die Großstadt München ganz klein wirkt. Irgendwie überschaubar. Die Mitarbeiter blicken hier eher in die Zeitung als auf den Monitor. Das Oktoberfest als Computerspiel: Dutzende Kilometer U-Bahnröhren in Ziffern und bunten Linien. Diese Arbeit stinkt nicht.

Wenn Hektik aufkommt, dann allenfalls bei den Bahnhofsaufsehern an den Überwachungsmonitoren. Am Marienplatz hat ein Betrunkener die Notbremse betätigt, der Zug steht schon halb im Tunnel. Plötzlich sammeln sich drei Mitarbeiter um den Bildschirm, beobachten die Situation. Nach zwei Minuten geht die Fahrt weiter. "Verprellte gibt's überall", schimpft ein Angestellter. Aber nur ganz leise.

Mehr als 50 Mitarbeiter der Münchner Verkehrsgesellschaft wurden für die Dauer der Wiesn in den Außendienst geschickt. Fast alle meldeten sich freiwillig. Robert Wadenklee ist einer von ihnen. Er steht am Bahnhof Theresienwiese im Glaskasten und hält die Gäste mit Witzen und lockeren Sprüchen bei Laune und dirigiert sie über die Lautsprecheranlage in die Züge. Seine Aufgabe verlangt Konzentration. Die Bahnsteige müssen frei werden, um Platz für die nachrückenden Leute zu schaffen. Dabei muss er einen Tonfall finden, der die Betrunkenen nicht reizt, sie aber trotzdem zum Verlassen der U-Bahnstation animiert. Wadenklee gibt sich betont locker, er steht mit seinem Mikrophon da, als moderiere er einen Diskoabend. Seine Sätze gehend fließend ineinander über, er redet im bayerischen Dialekt. Etwa so: "Nun geht's einmal vorwärts, das ist eine Schnellbahn und keine Schleichbahn." Heute Abend funktioniert es. Nur einzelne Festbesucher bleiben stehen. Oder versuchen es zumindest.

Normalerweise arbeitet Wadenklee am Marienplatz. Er freut sich jedes Jahr auf den Einsatz beim Oktoberfest. "Das ist für uns eine willkommene Abwechslung. Endlich haben wir mal direkt mit den Menschen zu tun", sagt er. Ein junger Italiener haut von außen an die Plexiglasscheibe des MVG-Häuschens und schimpft. Wadenklee zeigt keine Regung, noch nicht einmal jenes Zucken, das wohl jeden anderen Menschen durchfahren würde. Dafür arbeitet der Münchener schon zu lange hier.

Draußen auf dem Bahnsteig kümmern sich gerade U-Bahn-Wachen um rauflustige Promillekönige. Früher hatte die Verkehrsgesellschaft "Schwarze Sherriffs" für diesen Job beschäftigt. Doch häufig schlugen die Wachleute über die Stränge. Seitdem die hauseigenen Sicherheitskräfte Streife laufen, sind die Beschwerden zurückgegangen.

"Die Zeit vergeht schnell hier", sagt Liedtgens. Immer wieder Menschen, die kommen und gehen. Einfahrende Züge, Beschimpfungen, betrunkene Touristen, die sich in der Menschenmasse verloren haben. Keine Zeit, um abzuschalten. Doch auch diese Wiesn-Rushhour hat ein Ende. Es ist zwanzig vor eins. Die ersten Wachen haben ihren Rucksack geschultert, fahren heim. Oben am Haupteingang ist das Schleusentor offen, es gibt keinen Menschenstrom mehr, der reguliert werden müsste. "Ein ruhiger Abend", versichert ein bulliger Wachmann. "Ein Kollege musste mit Schnittverletzungen ins Krankenhaus. Irgend ein Irrer hat ihm einen zerbrochenen Maßkrug ins Gesicht geschlagen. Sonst nur das übliche."

Auf dem Bahnsteig befinden sich jetzt vor allem die "schweren Fälle", wie Liedtgens sagt. Ein U-Bahnfahrer drückt das anders aus. "Nur noch Breite unterwegs", tönt es über Streckenfunk. Direkt neben dem Glaskasten , auf einer der stählernen Bänke, sitzt eine junge Westfälin. Glasiger Blick, Alkoholfahne, Tränen auf der Wange. Sie hat ihren Bekannten verloren. Kein Handy, keine Adresse. Und sie selbst hoffnungslos betrunken in einer fremden Stadt. Liedtgens nimmt sie mit in den Sanitätsraum, gibt ihr Decke und Handtuch. Sie darf hier ihren Rausch ausschlafen. Ausnahmsweise. Und nur heute.

Um halb zwei wird der Bahnhof Theresienwiese geschlossen, danach ist ein Reinigungstrupp im Gebäude. Bis dahin muss auch der letzte Festbesucher den Weg nach Hause antreten. Auch für Wolfgang Liedtgens ist Feierabend: Rolltreppe rauf, um die Ecke, nach draußen. Ein Aufstieg.