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Erschienen u.a. im Münchner Merkur zu den Olympischen Spielen 2004

Der Jäger der verlorenen Idee

von Sebastian Christ

Am Ende würde er den Schatz finden. Vierzig brüchige, vergilbte Seiten. Ein Manuskript, dessen letzter Satz die Welt ein wenig verändert hat. Er würde sich wundern, warum dieser wichtige Satz so formlos aussieht: Hastig geschrieben, in geduckten, runden Buchstaben, die auf drei schmalen Zeilen über das Blatt flitzen. Und das alles auf einem dünnen Papier, das niemand benützte, der vor hat, die Menschheit auf die richtige Bahn zu bringen. Aber Marquis Francois d’Amat wäre schnell überzeugt, dass dieses unscheinbare Schriftstück genau das ist, was er mehr als zwei Jahre lang gesucht hat.

 

Doch um diesen Moment zu erleben, musste er einen langen, verschlungenen Weg gehen. Und fast schien es, als hätte ein unsichtbarer Gegner die Wegmarken gesetzt, so präzise führte ihn seine Suche von Anfang an ins Nichts. Denn am Tag, als Monsieur d’Amat sich zu suchen entschloss, wusste er nicht, ob dieses Dokument überhaupt noch existiert. Niemand wusste es. Doch der Marquis hatte eine Ahnung, dass er diesen Schatz finden könnte. Ja, dass er ihn finden müsste. So nahm er die Suche nach einem Dokument auf, das fast so lange verschollen war, wie es existierte: dem Olympischen Manifest. Eine Rede, die Baron Pierre de Coubertin am 25. November 1892 auf einem wissenschaftlichen Kongress an der Sorbonne gehalten hat. Der Marquis ist ein eleganter Mann. Im Winter trägt er Anzug, Mantel und Kaschmir-Schal. Und wenn es sein muss, dann lässt er selbst bei Minustemperaturen die Jacke offen, um auf Fotos besser auszusehen. Er kann in lebendigen, inbrünstig intonierten Sätzen von jenem Tag erzählen, an dem Coubertin etwas Neues wagen wollte. Und d'Amat hat sich in Laune geredet. Er hebt seine Stimme und presst jedes Wort mit Begeisterung nach außen. „Stellen sie sich vor, und das vor über 100 Jahren! Das ist etwas Enormes, etwas Kolossales!“ Er lässt eine kleine Pause, in der die Zuhörer seine Euphorie nachfühlen können. Schließlich referiert er weiter, über diese geniale Idee, die der Baron ganz zum Schluss der Rede erwähnte. Als Höhepunkt, sozusagen, zum ersten Mal überhaupt: die Wiedereinführung der Olympischen Spiele. Und das mitten im kriegslüsternen Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts.

 

Als Francois d’Amat zu suchen begann, schien einiges nicht mehr so zu sein, wie es einmal war. Er beobachtete als Diplomat der Französischen Republik das politische Geschäft. Konflikte, zwischenstaatliche Streitigkeiten, verfahrene Situationen. Das Internationale, Völkerübergreifende, es verlor an Wichtigkeit. D’Amat sah einfach keine Idee, die stärker war als der Moment. Also musste man sie finden. „Ich habe einen Text gesucht, der einen großen Gedanken transportiert. Etwas, das über das Alltägliche hinaus geht“, sagt der 63-Jährige. Sein Blick fiel auf die Olympischen Spiele, auf Pierre de Coubertin. „Für die Athleten bei Olympia spielt es keine Rolle, aus welchem Land sie kommen. Nur der Sport zählt.“ Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Sport ist Politik, davon ist der Marquis überzeugt. Und die Politik kann vom Sport etwas lernen.

 

Es war Mitte 1991. Er fing an, bei Freunden und Bekannten nachzufragen, wann Coubertin seine Vision vom Sport als Mittel zur Völkerverständigung entwickelt hat. Ohne Erfolg. Auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) konnte ihm nicht helfen. Längst hatten die Sportfunktionäre in Lausanne vergessen, auf welchem Dokument ihre Arbeit gründete. Dabei hätte alles so einfach sein können. D'Amats Suche wäre nie nötig gewesen, wenn man den Baron von Anfang an ernst genommen hätte. Doch seine Rede an der Sorbonne war ein Flop. Im Publikum saßen nur desinteressierte Erziehungswissenschaftler, die von Olympischen Spielen nichts wissen wollten. Die Forscher klatschten kurz, sie klatschten höflich, und dann sehr schnell gar nicht mehr. Es hätte keine Spur vom Manuskript dieser Rede gegeben, wäre da nicht ein Zeitungsreporter gewesen, der einen Artikel über die Tagung verfasste. Darin kam auch der junge Baron mit seiner Idee von Olympia vor.

 

Der erste Hoffnungsfunken. Vier Generationen später fiel dieser Text d’Amat in die Hände. Wenn man es so will, dann war dieser zufällig gefundene Artikel wie eine Schatzkarte für den Marquis. Freilich ohne Wegskizze, ohne Lageplan, ohne Beschreibung des versteckten Schatzes. Das Wichtigste an diesem Stück Papier war wohl, dass es vermochte, d'Amat zu inspirieren. Irgendwo musste das Manuskript noch sein. Und der Marquis gab nie auf. Das hatte seine Gründe.

 

Als Diplomat war er so etwas ein Mann für die schwierigen Fälle, den die Französische Republik etliche Male um den Globus sandte. Er hat viel erlebt und überlebt, so viel, dass seine Memoiren, die vor einem Jahr in Frankreich erschienen, zwischen den Deckeln von drei Büchern Platz finden. Darin erzählt er unter anderem, wie er als junger Mann die Sahara durchquert hat. Ganz allein, ohne Hilfe. Vielleicht muss man Optimist sein, wenn man solche Abenteuer überstehen will. Und Francois d'Amat ist Optimist. Er wusste, dass er sein Ziel erreichen würde. "Das was kommen soll, das kommt auch. Daran habe ich immer geglaubt.“

 

So forschte er weiter, kontaktierte Antiquitätenhändler in gut einem Dutzend Ländern. Fragte bei kleinen Läden und großen Händlern, reiste dabei mehrere Tausend Kilometer. Einige Spezialisten recherchierten in seinem Auftrag, fragten dabei noch viel mehr Läden und Archive ab, als er es alleine gekonnt hätte. Er recherchierte bei Kommissionen und Organisationen, aber niemand konnte ihm weiter helfen. So ging es fast zwei Jahre lang.

 

D'Amat musste lernen. Zum Beispiel, dass Schatzsuchen schwer sind und dauern. Wären sie einfach, dann gäbe es wohl kaum noch Schätze auf dieser Welt. Oft ist Glück im Spiel. Und in seinem Fall kam das Glück in Gestalt eines Schweizer Geschäftsmanns. Der Mann sagte, er kenne den Besitzer des Manifests. Und er könne d'Amat das Dokument zeigen.

 

Der Marquis überlegte nicht lange und setzte sich in den Zug von Paris nach Genf. Fast sieben Stunden dauerte die Fahrt. Unruhe. Vorfreude. Konnte es sein, dass die Suche ein Ende finden sollte?

 

Genf, der See, die Berge. Er war angekommen. Der Mann erwartete ihn am Bahnhof, fuhr ihn mit einer Limousine zu einer der vielen Banken in der Stadt. Fragt man d’Amat über die Details dieses Tages, dann wird er einsilbig. Er sagt nichts über den Namen der Bank, über die Identität seines Kontaktmannes und über den heutigen Besitzer des Dokuments. Vielleicht weiß er selbst zu wenig darüber. Vielleicht möchte er nichts sagen. Wenn er von dem entscheidenden Moment seiner Suche erzählt, wird er wieder sehr genau. Er, im Bankgebäude, vor ihm eine lange Reihe von Schließfächern. „Sie sahen ganz normal aus“, sagt d’Amat. Mit den Händen zeigt er die Maße eines Aktenkoffers. Größer sei das Fach nicht. Hier also lag das Manifest vergraben, womöglich seit Jahrzehnten, an diesem völlig unfestlichen Ort, der keine Würde kannte. Nur die Nummern der Fächer.

 

Er war am Ziel. Alles, was ihn die ganze Zeit von seinem Schatz getrennt hatte, war nun aus dem Weg geräumt. Das Schließfach öffnete sich. Monsieur d’Amat wurde von einem seltsamen Gefühl umschlungen. Konnte es wirklich sein, dass diese 40 Blätter nun das Olympische Manifest sein sollten? Der Marquis fing an zu lesen. „Es war, als bekäme ich einen Brief, den mir mein Großvater einst geschrieben hätte.“ Er war gerührt. „Hundert Jahre Zeitunterschied, und er beschäftigt sich mit denselben Gedanken wie ich.“ Doch dann ging alles sehr schnell. Der Schweizer erlaubte ihm noch, die Seiten zu fotografieren. Kopieren durfte er sie nicht, dafür war das Papier zu brüchig. Am Ende verschwand das Dokument wieder im Schließfach. D’Amat hat es seit dem nicht wieder gesehen. Auch den Besitzer hat er nie persönlich kennen gelernt. Vielleicht ist es ein Sammler. Oder ein Geschäftsmann. „Niemand weiß es“, sagt er vieldeutig. Die abfotografierten Seiten hat d'Amat später als Buch veröffentlicht. Es war sein Wunsch. Jetzt kann jeder lesen, wie die modernen Spiele erfunden wurden.

 

Der Marquis verteidigt die Olympische Idee. Auch heute noch. Sportliche Leistungen? Höher, schneller, weiter? D'Amat lehnt sich zurück. Es gehe doch um das Wesentliche, die Völkerverständigung. Er glaubt daran. Manche Sportler sehen das mittlerweile anders. Die Olympischen Spiele in Athen hatten noch nicht begonnen, da gab es schon die ersten Dopingfälle. Dann der Skandal um die griechischen Sprinter Kostas Kenteris und Ekaterini Thanou. Coubertins Vision, sie scheint für die Beteiligten unwichtiger zu werden. Der Kommerz, die Werbeverträge - viel Geld, das bleischwer an den Medaillen hängt. Oder? Der freundliche, diplomatische Monsieur d’Amat bäumt sich in seinem Rattanstuhl auf. Er entschuldigt sich vorsorglich. „Es mag jetzt unhöflich klingen“, sagt er. Dann legt er los. „Das IOC leistet ganz hervorragende Arbeit. Sport als Geschäft ist nichts Schlechtes, dass hat Olympia erst zu einem so großen, weltumspannenden Ereignis gemacht.“ Und: „Doping, dass ist doch das Problem eines jeden einzelnen. Mit der Olympischen Idee hat das nichts zu tun.“

Manche Schätze rosten. Andere nie. Sie behalten den Glanz, weil ihre Finder fest genug an sie glauben. Das ist die Geschichte des Olympischen Manifests. Und die von Marquis Francois d'Amat.